Panchakarma 2024

Schon wieder Panchakarma? Das hast du doch erst gehabt. Ist das wirklich notwendig? Reicht nicht das vom letzten Mal? Kannst du dir das überhaupt leisten?

Solche und ähnliche Frage haben mich im letzten halben Jahr bei den Vorbereitungen meiner Reise nach Nadiad von einigen Seiten immer wieder begleitet. Und diese Stimmen ärgern mich. Sagen sie mir doch, dass sie nicht ver­standen haben, was es bedeutet, sich jeden Tag mit den Ein­schränkungen einer chronischen Erkrankung herum­zu­schlagen und warum ich so für Ayurveda brenne. Meine gemachten Erfahrungen mit Ayurveda zeigen mir, dass bei der Diagnose Typ-1-Diabetes kein Damokles­schwert über einem schwebt. Einige dia­be­tischen Spät­folgen sind mit Ayurveda zum Teil besser hand­habbar, sogar umkehrbar. Es besteht also Hoffnung. Dafür ist mein Blog gedacht. Und viel­leicht erreiche ich die eine oder andere Person, die die Ansätze des Ayurveda in der Behandlung chronischer Krank­heiten wie Typ-1-Diabetes mit einfließen lässt.

Sehr deutlich wird es am Beispiel meines Insulin­bedarfs. Nach meinem Wechsel der Insulin­pumpe zur Accu-Chek Insight hatte ich mich ent­schlossen, das automatisierte Closed-Loop-System aus­zu­probieren. Dabei übermittelt ein Sensor die Blut­zucker­werte an ein Hand­gerät, welches mittels Künstlicher Intelligenz (KI) die Insulin­abgabe „automatisch“ an der Insulin­pumpe steuert. Theoretisch mag dieses Closed-Loop-System für viele Betroffene gut funktionieren. Für mich funktionierte dieses System jedenfalls nicht.

Das Problem ist die automatische Steuerung des Blut­zuckers durch die permanente Insulin­abgabe. Schon geringste Blut­zucker­anstiege veranlasst die KI zur Insulin­frei­setzung. Insulin ist bekannter­maßen ein Hormon und steuert eben nicht nur das Gleich­gewicht zwischen Energie­auf­nahme und Energie­verbrauch im Körper, sondern auch die Fett­synthese. Das Stich­wort hierzu lautet Insulin­mast. Durch den Einsatz des Closed-Loop-Systems hatte ich so in relativ kurzer Zeit wieder ordentlich an Gewicht zugelegt. Ein Umstand, der wiederum einem erhöhen Insulin­bedarf einfordert. Ein sehr unglück­licher Kreislauf.

Im Ayurveda jedoch ist der Ansatz ein anderer. Hier soll der körper­eigene Bedarf an Insulin so gering wie möglich ausfallen. Dies wird direkt und indirekt erreicht. Direkt hat die Menge und die Qualität der aufgenommenen Nahrung sofortige Auswirkungen auf den Insulin­bedarf. Indirekt wird eine höhere Sensibilisierung des Organismus auf das Hormon Insulin durch die Verabreichung von spezifischen pflanzlichen Arznei­mitteln erreicht. Aber alles der Reihe nach.

Nach fast vier Jahren Pause von der Ayurveda-Medizin kamen bei mir langsam die alten Probleme zurück. Dank Ayurveda hatte ich sehr lange Zeit Ruhe vor irgendwelchen Gefäß­problematiken. Mein Vorrat an ayurvedischen Medikamenten war in den letzten vier Jahren leider aufgebraucht. Meine Gewichts­zunahme ging einher mit einem Wieder­auf­flammen der verbannt geglaubten pAVK. Doch dieses Mal wusste ich sehr genau, was ich zu tun hatte. Um die Sanierung meiner Gefäße im Ayurveda zu ermöglichen brauchte ich offene Arterien. Also ließ ich die Engstelle der einen Ober­schenkel­arterie dehnen und die andere, seit 2017 verschlossene Ober­schenkel­arterie mittels Fräs­technik im Uni­klinikum Leipzig wieder öffnen. Seit dem 1. Februar befinde ich mich gemeinsam mit Carsten wieder im P.D. Patel Ayurveda Hospital in Nadiad.

Das jahrtausendealte Verfahren von Pancha­karma mit seinen Ein- und Ausleitungen hat sich in den vier Jahren natürlich nicht verändert. Die Einleitung begann erneut mit einer Woche lang stetig steigernder Einnahme von medizinisiertem flüssigen Ghee. In der ayurvedischen Vorstellung erhöht das Cholesterin im Ghee die Durch­lässig­keit der Zellmembranen. Damit können Toxine besser aus den Zellen abtransportiert werden. Doch die Einnahme von flüssigem Butter­schmalz ist alles andere als angenehm. Diese Erinnerung hatte ich verdrängt. Auch, dass sich eine bleierne Schwere im Körper für die Zeit des Ein­leitungs­verfahrens einstellt. Den Tag der anschließenden Ausleitung bestimmt der Körper. Er signalisiert unmiss­ver­ständlich im Stuhlgang, dass er kein weiteres Ghee mehr aufnehmen kann. Es erfolgt ein Ruhetag mit einer erholenden ayurvedischen Einölung (Abhyanga) und einem Dampfbad (Svedana).

Die Ausleitung selbst, das Virechana, ist ein feierlicher Akt. Es ist eine Stoffwechsel­höchst­leistung, die im Ayurveda gewürdigt wird. Dazu versammeln sich Ärzte und Schwestern und stimmen ein Mantra an. Die Einnahme einer Mixtur aus Rizinusöl und weiterer abführender Kräuter beginnt das eigentliche Ausleitungs­verfahren. Jegliche geistige und körperliche Anstrengung ist an diesem Tag zu vermeiden. Ebenso ein Duschen und ein sich dem Sonnen­licht auszusetzen. Zudem ist die Anzahl der Toiletten­gänge zu dokumentieren. Diese Anzahl entscheidet darüber, ob diese Entschlackung wiederholt werden muss. Gegen Abend darf die erste Nahrung des Tages aufgenommen werden. Eine leichte Suppe aus Reis­schleim oder Mung.

Beim Virechana, der ayurvedischen Purifikation, werden die durch das Ghee mobilisierten und im Ver­dauungs­­trakt angesammelten Toxine bzw. Schlacken, das Ama, ausgeleitet. Es dient zur Entfernung überschüssiger Doshas im Körper.

Der Tag nach der Ausleitung dient zur Stoff­wechsel­entlastung. Es erfolgt keine weitere Behandlung. Die körperliche Schwere der vorherigen Tage ist verschwunden. Eine gewisse Erschöpfung ist jedoch zu spüren. Mit einer leichten Suppe aus Reis­schleim oder Mung soll im Ayurveda das Ver­dauungs­feuer, das Agni, weiter angekurbelt werden. Naturwissen­schaftlich lässt sich dies mit der vorsichtigen Neubesiedlung für den Organismus günstiger Bakterien­populationen im Mikro­biom des Darms umschreiben. Der Darm als Sitz des Immun­systems ist der Ort, wo Ayurveda seine Kraft entfaltet. Die unglaublich gesunde Ernährung wird diesen Prozess in den nächsten Wochen weiter verstärken.

„Im Ayurveda sind die Anweisungen zur Ernährung wichtiger als die Einnahme von Medikamenten.“

Den Stellenwert von Ernährung im Ayurveda habe ich bereits in vorherigen Artikeln mehrfach beschrieben. Dennoch bin ich immer wieder aufs Neue erstaunt, wie komplex und weitreichend die Auswirkungen von Regelmäßigkeit, Fasten, Stress­reduktion sowie qualitativ hoch­wertiger und sattviger Ernährung auf das eigene Wohl­befinden sind. So hat sich die Küche hier im P.D. Patel Ayurveda Hospital gefühlt als einziges in den vergangenen vier Jahren verändert. Sie ist inzwischen so gut, dass ich nicht weiß, wie ich ohne diese, einfach nur glücklich machende Nahrung in der Zeit nach Nadiad auskommen soll. Auch werde ich ein neues Rezept von hier, eine Art National­gericht aus Gujarat, mit nach Hause nehmen. Nudeln aus Mung: Calabash Khandvi. Der kalorische Index dazu ist einfach nur ein Traum. Bestimmt werde ich das Rezept dazu auch hier später veröffentlichen.

Ein inneres Gleichgewichtszustand, Tridosha, ist im Ayurveda die Voraus­setzung für Heilung. Das Maß der Dinge zu finden, um in Balance mit sich und der Umwelt zu sein, ist dabei jedoch keine leichte Aufgabe. Besonders mit unserer westlichen Lebens­weise, wo Aufmerk­samkeit zu einer neuen Art Währung sich zunehmend stilisiert, wird das Finden von innerer Balance immer schwieriger. Damit meine ich die immer mehr zunehmende Okkupation der eigenen Aufmerk­samkeit mithilfe von Mobil­telefonen und aggressiver digitaler Algorithmen meist US-amerikanischer Unter­nehmen, deren Funktion nur auf das Binden von Aufmerk­samkeit abzielt. Das Problem dabei ist, dass diese Unternehmen aus ihrem Geschäfts­modell nicht mehr einfach so herauskommen werden.
Auch wenn ich mich bei diesem Thema selbst an die Nase nehmen muss und nicht den Zeige­finger erheben möchte, geht mir dieser Punkt sehr durch den Kopf. Dabei muss ich an meine Tochter und einige gute Freunde denken…

Nach der „auskratzenden“ Ausleitungs- und anschließender Erholungs­phase begann wieder der angenehmere Teil der Panchakarma-Therapie. Als Bestandteil des Panchakarma-Verfahrens dienen aufbauende Verfahren, die Rasayana, der Förderung der Lebens­energie. Das Hauptziel von Rasayana besteht darin, das Immunsystem des Körpers zu stärken und dem Körper Widerstands­kraft gegen Krank­heiten und Alterung zu verleihen. Entscheidend für ein erfolgreiches Rasayana sind dabei die weitere Entgiftung des Körpers und Stressabbau. Rasayana benötigt im Natur­heil­verfahren Ayurveda die meiste Zeit und sollte nach der Ausleitung über mindestens drei Wochen, besser fünf bis sieben, angewendet werden. Von dieser Seite sind die mit zwei Wochen veranschlagten Panchakarma-Verfahren in Europa tatsächlich nur Wellness und haben nur einen minimalen therapeutischen Effekt.

Neben der individualisierten Ernährung nach ayurvedischen Vorgaben gehören eine Vielzahl innerlich und äußerlich körperlich stärkender Verfahren zum Rasayana. Die täglichen Ölmassagen (Abhyanga) dienen zur Unterstützung des Transports von im Körper verbliebenen Toxinen in den Verdauungs­trakt. Diese sollen mit den bereits beschriebenen Bastis aus dem Körper entfernt werden. Masha Pinda, oder wie die Einheimischen fast liebevoll sagen, Mashpadin, begleitet mich nun schon seit zwei Wochen täglich. Die sehr heiße Mischung aus Urad Dal, Ashwagandha, Bala Mool und Milch wird im Anschluss an die Ölmassage auf­ge­tragen. Angenehm ist etwas anderes. Zum anschließenden Trocknen sitze ich auf dem Dach in der Sonne und genieße das Eintauchen in das soziale Miteinander der versammelten indischen Patienten. Warum mich viele für einen Amerikaner halten, lässt mich schmunzeln. Die neugierigen Gesichter lächeln zurück, wenn ich dann Germany rufe und ein Gespräch mit Ihnen beginne.

Jedes Mal im Verlauf der Panchakarma-Therapie macht mich die Reduktion meines Insulinbedarfs sprachlos. Ich muss die ersten zwei Wochen nach Beginn höllisch aufpassen, dass ich mit meinem bisherigen Insulin­bedarf nicht dauerhaft in eine Hypo rutsche und sich ein Gewöhnungseffekt einstellt.  Ständige Korrekturen der Basal­rate gehören am Morgen dazu. Die zusätzliche Gabe von pflanzlichen Medikamenten wie Gurmar, „den Zucker­zerstörer“ bzw. Indischer Schwalbenwurz (Gymmnema sylvestre) und „Mamajjaka” (Enicostoma littorale) brauchen eine gewisse Zeit, bis sie vollständig ihre Wirkung im Körper entfalten. Dass ich jetzt bei etwa 35 Insulin­einheiten (IE) pro Tag angekommen bin, ist dabei ein neuer Negativ­rekord. Das wird mir bei der Gewichts­reduktion helfen und meinen Insulin­bedarf hoffentlich noch weiter senken.

Jetzt ist dieser Artikel doch etwas länger geworden, als ich ursprünglich geplant hatte. Es sind so viele Details, die ich hier in Nadiad jedes Mal neu entdecke und die mich staunen lassen. Die komplexe und so unglaublich intelligente Betrachtung der Verbindung von Körper, Psyche und Selbst im Ayurveda ist anders und ungewohnt. Dennoch habe ich den stillen Verdacht, dass dieser Ansatz der richtige ist in einer Welt, wo Körper und Geist so sehr voneinander getrennt sind. Carsten witzelt schon, dass ich mir hier eine Wohnung nehme und noch weiter in die Welt des Ayurveda eintauchen sollte. Auf jeden Fall werde ich wieder­kommen. Vielleicht eher als in vier Jahren. Meine Gefäße werden den Termin wohl bestimmen.

Auch möchte ich gern hier die Gelegenheit nutzen und darauf hinweisen, den Erhalt meiner Webseite mit einer kleinen Spende auf der Startseite zu unter­stützen. Das P.D. Patel Ayurveda Hospital bekommt zudem Nachwuchs in Form eines International Hospital. Das nicht gewinn­orientierte Kranken­haus benutzt zur Finanzierung dieses Bau­vorhabens fast ausschließlich die Gelder der europäischen Patienten. Nächstes Jahr wird der Neubau nach sieben Jahren hoffentlich fertig sein und vielleicht kann ich bei meinem nächsten Besuch hier das nächste Panchakarma machen.

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